5. Kapitel, 2009 bis 2011
Suchend in einer gefluteten Stadt NIEMANDESLAND gefunden

Eine spartenübergreifende Installation
(Klang: Marco Repetto www.inzec.ch, Text: Andrea Gerster www.wordworker.ch)







Alice Henkes: Mit dem Zelt unterwegs in Richtung Heimat

Eine ganze Stadt breitet sich klar strukturiert und doch verwirrend unübersichtlich vor dem Betrachter aus. Das „Stadtfeld“, eine grossflächige Papierarbeit, bedruckt mit Fotografien architektonischer Details aus dem modernen Tokio, liegt waagerecht, etwa in Kniehöhe vor dem Betrachter. Ein spezielles Faltmuster erzeugt eine Art Wabenstruktur und verleiht der Printcollage auf Japanpapier sowohl Plastizität wie auch eine extreme Verdichtung der Bilder, die an die Komplexität und Unübersichtlichkeit moderner Megastädte denken lässt. Das klare Muster der Falzen erinnert an die strengen Strassenverläufe am Reissbrett geplanter Städte. Fassaden und Fensterreihen summieren sich innerhalb dieser Gliederung zu einem Zufallsmuster, in dem das einzelne Element kaum mehr auszumachen ist. Wer sich hineindenkt in diesen imaginären Moloch, aus Versatzstücken einer realen Metropole zusammengepuzzelt, kann sich darin verlieren. Zugleich erinnert die Ziehharmonika-Faltung an die Scherengitter, die in traditionellen Jurten die Wände bilden. Die ganze imaginäre Stadt könnte offenbar, einer Landkarte gleich, zusammengefaltet, verstaut und an anderer Stelle neu entfaltet werden.







Zusammenfalten könnte man nicht nur das 190 x 325 cm grosse „Stadtfeld“, zu dem eine von Marco Repetto gestaltete Musikcollage mit urbane Sounds zwischen nervöser Beweglichkeit und grollender Bedrohung gehört. Die gesamte Installation „Suchend in einer gefluteten Stadt NIEMANDESLAND gefunden“, wirkt so ephemer wie ein Zeltlager. Ein Zelt aus blauen Plastikbahnen bildet als Raum im Raum den eigentlichen Ausstellungsbereich, und verbindet die Teile der Installation konsequent miteinander. Von aussen betrachtet erinnern die Plastikwände an Zirkuszelte und Wanderbühnen, an eine Welt der Illusionen, in der die alte Kluft zwischen arrivierten Bürgern und mobilen Randgruppen noch nachlebt. Die blaue Farbe der Folie indes verweist auf das Unendliche ebenso wie das Ungewisse. Wer ins Blaue fährt, der lässt sich auf Abenteuer ein.

„Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren“, schreibt Friedrich Nietzsche. Dieser Wille zur Macht, der hier benannt wird, versteht die Natur als einen Raum, den der Mensch in Besitz nehmen und gestalten darf und muss. Diesem zupackenden Anspruch steht die traditionelle nomadische Lebensweise gegenüber, die auf die Kräfte der Natur reagiert, indem sie sich deren Rhythmus anpasst. Die Viehherden werden im Wechsel der Jahreszeiten zu den jeweils besten Weideflächen geführt. Den Sesshaften, die aus offenem Land kalkulierbaren Besitz gemacht haben, gilt diese flexible Lebensweise als unsolide und verdächtig. In vielen Staaten werden nomadisch lebende Völker zu Sesshaftigkeit gezwungen. Zugleich   entstehen in den Städten, den vom Menschen entworfenen und gestalteten Lebensräumen, neue Formen mobilen Lebens. Der populärsprachliche Begriff Grossstadtnomade bezeichnet gut ausgebildete Menschen, die häufig Job und/oder Wohnort wechseln. Auf Kulturschaffende angewandt1, wird der Begriff  Grossstadt-nomade zur zeitgemässen Variante des Flaneurs, jenes Beobachters, dem die Strasse zur Wohnung wird, wie Walter Benjamin2 schreibt. Was hier als Idee anklingt, ist für Obdachlose bittere Realität. Sie leben buchstäblich auf der Strasse. In Japan, wo Armut ein Tabu ist und Obdachlose von öffentlichen Stellen lange ignoriert wurden, hat sich in den grossen Städten eine Parallelwelt der Wohnungslosen gebildet. In Parks und stillen Nischen entstehen aus blauen Plastikbahnen Zelte, in denen die Rojou Seikatsusha (auf der Strasse lebenden Menschen) ihre Habseligkeiten unterbringen. Die Schuhe bleiben draussen und vor dem „steht eine Vase mit zwei Blümchen“, beobachtet ein Reporter in Tokio3. Viele japanische Obdachlose bemühen sich auch in ihren Zelt-Behausungen um ein gewisses Mass an bürgerlicher Normalität.

Mobilität und Behausung, Sehnsucht nach Verwurzelung und Suche nach Neuland – diese Themen ziehen sich durch die gesamte Installation, die sich nicht von ungefähr in jene blauen Plastikbahnen hüllt, die Japans Obdachlosen als Baustoff ihrer Zelte dienen. Während eines zweimonatigen Aufenthalts in Japan sammelte Sylvia Hostettler 2009 Anregung und Material zu ihrer Installation. Die Künstlerin, die sich zuvor intensiv mit Naturräumen beschäftigt hat, nähert sich auch der Stadt wie einer Landschaft. Deutlich wird das im Installationsteil „Schachtelobjekt“. Einem Hornissennest ähnlich hängt das Gebilde aus kleinen Kartonboxen, je mit einer Art Bullauge versehen, von der Decke herab. Durch ihrer betongraue Farbe erinnern die eng zusammengesteckten Schachteln an moderne Sozialbauten, die möglichst viele Menschen platz- und kostensparend unterbringen sollen. Die hängende Installation verleiht dieser Schachtelsiedlung etwas Flüchtiges, als könnten die Boxen jeden Moment auseinanderstieben wie ein Insektenschwarm. Zugleich erinnert die gedrängte Form an Lebewesen, die Schutz suchend zusammenrücken. Aus diesen grauen Waben dringen die Stimmen eines Hörspiels. Geschichten von Odachlosen, von der Autorin Andrea Gerster in knappe Sätze gefasst, die unter die Haut gehen, verbinden sich mit Zitaten des Städtebau- und Planungshistorikers Angelus Eisinger: „Um 1800 lebten etwa 5% der Menschen in den Städten. Heute lebt erstmals die Mehrheit der Menschen in Städten.“







Vor dem „Schachtelobjekt“ mit seiner visuellen Nähe zu lieblosen Wohnblocks ebenso wie vor dem akkurat gefalteten Mosaik des „Stadtfeldes“ drängt sich der Gedanke an Alexander Mitscherlichs Schrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ auf. Mitscherlich beklagt darin, dass deutsche Städte beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Charakter verloren haben. Eine Ursache dafür sei die „Entmischung der Stadtfunktionen“4, mit getrennten Wohnvierteln und Einkaufszentren. „In der modernen Planung wird den Menschen eine Rolle zugewiesen und dabei wird ihr Eigensinn vergessen“, so ein Eisinger-Zitat, das aus dem „Schachtelobjekt“ klingt.Ähnlich sieht es der deutsche Architekt Meinhard von Gerkan, der in China tätig ist und den Bauboom in asiatischen Megastädten kritisch betrachtet. Warum wir die alten Städte lieben und die modernen meiden, fragte er in einem Beitrag des Bayrischen Rundfunks5 und nennt als Hauptproblem das Auto, das viel Platz koste, Lärm und Dreck verursache und doch in der Stadtplanung obenan stehe. Mobilität ist zum Grundbedürfnis der Moderne geworden, das Auto ihr Fetisch. Die meisten Städter sind Grossstadtnomaden auf Rädern – von Autos oder Pendlerzügen – und manche suchen in steter Fahrt nach einem inneren Ankerplatz.



















Träume vom Beheimatet-Sein finden sich in den Videoprojektionen und dem „Karussell“, die das „Schachtelobjekt“ umgeben. Die Videos führen unter anderem in dunkle Höhlen und machen so das  archaische Bedürfnis nach Schutz und Heimat fühlbar, das „Karussell“, mit goldenen Papier-Türmen besetzt, reflektiert die Verheissungen des kapitalistischen Systems wie auch das Lockbild einer Heimat im spirituellen Sinne. In den bis zu zwei Meter hohen Türmen, vergoldet oder mit Detailmustern japanischer Banknoten bedruckt, wird das gefaltete Papier vollends zu einer Architektur, die in ihrem Glanz an Banken aber auch an die Pracht sakraler Bauten erinnert. Im Geldgeschäft wie in Tempeln und Kirchen gibt es Bereiche, die dem Publikum nicht zugänglich sind. Das „Karussell“, das langsam rotierend seine Herrlichkeit präsentiert, ist (wie auch eine der Videoarbeiten) in einem nicht zugänglichen Raum, ähnlich einem Schaufenster oder Reliquienschrein, installiert: Das Gezeigte scheint zum Greifen nahe und wirkt doch entrückt. Diese Entrücktheit markiert die Distanz, die der gegenwartsverhaftete Mensch fühlt, wo er sich Wesenheiten wünscht, die über Zeit und Raum bestehen. Ernst E. Vardiman vermutet in der nomadischen Lebensweise eine Quelle für die arabisch-europäischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam, denn alle drei entwickelten sich bei Wüstenvölkern6. Da die Wüste kaum Wegmarken bot, lernten ihre Bewohner sich am Sternenhimmel zu orientieren. Bald suchten sie nicht nur geographische Orientierung am Firmament. So könnte die Vorstellung eines unsichtbaren Gottes entstanden sein, der die Welt bis heute prägt. So legt die Christenheit diesem Gott die Worte in den Mund, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, was vom Ackerbau bis zu Bodenspekulationen und Städtebau geführt hat.





1 Als der aus Bern gebürtige, in Paris lebende Autor Paul Nizon 2007 der Kranich-steiner Literaturpreis verliehen wurde, urteilte die Jury, der “Großstadtnomade Nizon” erkunde in seinen hochmusikalischen Texten die Fremde vor der eigenen Haustür und habe sich damit als einzigartige Stimme der deutschsprachigen Literatur etabliert. Vgl hierzu: http://lettra.tv/category/autoren/page/66/
2 Walter Benjamin: Der Flaneur. In: Dandy, Snob, Flaneur. Hrsg. Gerd Stein.
Frankfurt/Main 1985
3 Bernd Weiler. Die Welt. 13.2.1999
4 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt/Main. 1965
5 „Höher, schneller, weiter“. Radio Wissen. Sendung vom 25.2.2011, Radio Bayern 2
6 Ernst E. Vardiman: Nomaden. Schöpfer einer neuen Kultur im Vorderen Orient. Herrsching 1990



Das Projekt wurde ermöglicht durch: Kunsthalle Arbon, Stiftung Pro Scientia et Arte, KulturStadtBern, Kanton Bern, Kulturstiftung des Kantons Thurgau, Stadt Arbon, Ernst Göhner Stiftung, Thurgauer Kantonalbank, Galerie Béatrice Brunner